Es gibt zahlreiche Gelegenheiten, um festzustellen, dass auch das eigene Selbst - entgegen jeglicher irrationalen Hoffnung - dem Alterungsprozess nicht entzogen ist. Eine Möglichkeit ist die Aufforderung, gut 25 Jahre nach seinem ersten Erscheinen ein Buch zu thematisieren, dessen Erstauflage in der eigenen akademischen Ausbildung nicht ganz unbedeutend war. Es war 1997, als mit Niklas Luhmanns "Gesellschaft der Gesellschaft" ein in mehrerlei Hinsicht schwergewichtiger Block mitten in die allgemeine Theoriediskussion hineinplumpste. Dass dieses Buch in der Erstausgabe mit schwarzem Einband daherkam, erschien mir damals durchaus folgerichtig und erinnerte an den gleichfarbigen Monolithen aus Stanley Kubricks "2001: A Space Odyssey". Ähnlich Ehrfurcht gebietend gestaltete sich die Lektüre von Luhmanns Hauptwerk, vor allem dem Novizen in Sachen Systemtheorie, der ich damals war.
Anhand grundlegender Aufsätze sollen einige Theoreme und Fragestellungen der Theorie von N. Luhmann dargestellt und Möglichkeiten zu kritischer Einsicht aufgezeigt werden. Eine zentrale Kategorie der Theorie Luhmanns ist die Komplexität. Deren Bedeutung als herausragendes Bezugsproblem für das funktionalistische Deutungskonzept des gegenwärtigen Gesellschaftszustandes und die Frage, wie sich die weitere Entwicklung der Gesellschaft vollziehen wird, stellt der Verf. dar. Im Zusammenhang mit den Risiken der Komplexität für eine Gesellschaft geht er auf den Begriff der Kontingenz ein, wobei er die Anwendung dieses Gedankens in Luhmanns Theorie kritisiert, da dieser eine Entscheidungsfreiheit und einen Entscheidungsspielraum voraussetzt, der in Wirklichkeit nicht gegeben ist. Der Begriff der Komplexitätsreduktion wird anhand von einigen Fragen, - nach den Vorteilen und Chancen der Komplexitätsreduktion gegenüber der Komplexitätsvernichtung, nach dem Grund für die Gefahr der Komplexitätsvernichtung, nach den gesellschaftlichen Tatbeständen und Prozessen, die das Risiko vermindern, - diskutiert. Kritisiert werden dabei vor allem gesellschaftspolitische Implikationen der Theorie Luhmanns, wie die Gleichsetzung von Demokratie und Freiheit mit Reduktion vonKomplexität, die einer realistischen und gesellschaftskritischen Substanz entbehrt; das Bild des politischen Systems als des typischen Entscheidungssystems einer Gesellschaft und die fragwürdige Verwendung des Machtbegriffs, sowie Luhmanns Konzept zur Beseitigung bzw. Verringerung der Gefahr der Komplexitätsvernichtung. (JM)
In: Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 und 2, S. 2839-2849
"Bourdieu vertritt die 'linke' Auffassung vom Wohlfahrtsstaat als Verteidigung der Autonomie der Politik gegenüber der Wirtschaft und ihrem neoliberalen Expansionismus, Luhmann die 'rechte' Auffassung vom Wohlfahrtsstaat als Überdehnung der Zuständigkeit der Politik und Eingriff in die Autonomie anderer Bereiche. Dieser Unterschied in den politiknahen und common-sense-nahen Auffassungen soll auf tieferliegende Theoriestrukturen zurückgeführt werden. Bei Bourdieu spielt hier die grundsätzlich asymmetrische Anlage seiner Theorie eine Rolle, die der Wirtschaft sowohl analytisch als auch real einen Primat zuweist. Die anderen Bereiche der Gesellschaft können dann eine relative Autonomie gewinnen durch Absetzung von der dominierenden Logik der Wirtschaft. Jedoch kann Bourdieu von dieser Theorieanlage aus keinen Sinn für die Autonomie der Wirtschaft mehr haben, und deshalb sieht er den Wohlfahrtsstaat ausschließlich als Autonomieverteidigung (der Politik) und nicht etwa als Autonomieeinschränkung (etwa der Wirtschaft). Luhmanns Theorie enthält nun nicht etwa eine umgekehrte Asymmetrie (etwa mit einem Primat der Politik). Vielmehr legt Luhmann Wert auf Symmetrie und auf die Aussage, dass keinem Teilbereich der modernen Gesellschaft eine Zentralstellung zukommt. Gerade dieses Bemühen um Symmetrie hindert Luhmann aber daran, eine systemtheoretisch eigentlich nahe liegende und weniger politiknahe Deutungsmöglichkeit zu wählen: Der Wohlfahrtsstaat schützt andere Bereiche (Bildung, Wissenschaft, Gesundheit etc.) vor einer Punkt-zu-Punkt-Kopplung an Wirtschaft, indem er Bildungs-, Wissenschafts-, Gesundheitsleistungen von der Notwendigkeit unmittelbarer, punktueller Zahlungen entlastet und die für diese Leistungen nötigen Zahlungen auf eine höhere Generalisierungsebene hebt. Weil diese Interpretation dem Staat bzw. der Politik eine gewisse Zentralstellung in der Gesellschaft gibt, kann Luhmann sie gerade wegen seines Bemühens um Symmetrie nicht wählen und verfällt stattdessen in die theoretisch weniger anspruchsvolle, politisch 'rechte' Auffassung des Wohlfahrtsstaates." (Autorenreferat)
"Das Essay lässt sich von der Frage leiten, wie mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns an Themen der Gender und Queer Studies angeschlossen werden kann. Neben der Vorstellung einiger bereits existierender Ansätze interessieren dabei besonders Luhmanns erkenntnistheoretischer Hintergrund und sein Verweis auf die Kontingenz des Sozialen, denn Geschlechter und andere sinnhafte Erscheinungen ergeben sich aus der Konstruktion sozialer und sozialisierter psychischer Systeme. 'Konstruiert' bedeutet jedoch nicht, dass die soziale oder psychische Referenz auf Geschlecht durch die regelmäßige Unterscheidung von Menschen in weibliche und männliche Wesen keine Folgen zeitigt. Was konstruiert ist, hat reale Folgen, weil es konstruiert ist. Doch das Wissen um die Konstruiertheit birgt Potenzial zur Emanzipation." (Autorenreferat)
In: Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Teilbd. 1 und 2, S. 2850-2858
"Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann sind moderne Klassiker der Soziologie. Seit 30 Jahren gelten ihre soziologischen Theorien als subtile Selbstbeschreibungen der 'modernen' Gesellschaft: Bourdieus Diagnose stratifikatorischer Distinktionen durch ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital; Luhmanns Analyse funktional ausdifferenzierter Teilsysteme wie Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft etc. Beobachtet man beide Theorien oder Beobachtungssprachen vergleichend, verwandeln sie sich in einen raffinierten Selbstausdruck der 'bürgerlichen Gesellschaft' - nach deren Kontingenzerfahrung im 20. Jahrhundert. Diese innere Wahlverwandtschaft zwischen Bourdieu und Luhmann und beider zur 'bürgerlichen Gesellschaft' in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich sowohl in der Theorieanlage wie in der Erinnerung an den geschichtlichen Entstehungs- und Rezeptionszusammenhang dieser soziologischen Theorien zeigen. Den neueren Versuchen des Theorienvergleichs von Bourdieu und Luhmann (Nassehi/ Nollmann 2004) entgeht diese Pointe, weil sie beide Theorien immer auf die moderne Gesellschaft allgemein beziehen, nicht aber auf die bürgerliche Moderne nach ihrer Kontingenzerfahrung, das heißt der Erfahrung der Möglichkeit nichtbürgerlicher Gesellschaften der Moderne. Der Gedankengang wird in drei Schritten entfaltet: Zunächst geht es um einen internen Vergleich beider soziologischer Theorien (I), dann um die Beobachtung beider von einer dritten Theorie aus - nämlich der der 'bürgerlichen Gesellschaft' - (II) und abschließend die Entfaltung der These (III), inwiefern es sich bei Bourdieu und Luhmann um eine soziologische Doppelbeobachtung der 'bürgerlichen Gesellschaft' nach ihrer Kontingenzerfahrung handelt." (Autorenreferat)
Der Autor befaßt sich in dem vorliegenden Aufsatz mit N. Luhmanns Buch "Die Wirtschaft der Gesellschaft". Luhmann reklamiert für seine Theorie der Wirtschaft "erhöhte Ansprüche an begriffliche Genauigkeit - und dies auf einem ganz anderen Wege als dem üblichen der Mathematik". Diese erhöhten Ansprüche unterzieht der Autor einer kritischen Prüfung. Da "Die Wirtschaft der Gesellschaft" eine Anwendung und Fortführung der Luhmannschen Theorie sozialer Systeme ist, skizziert der Autor zunächst die Problematik der Theorie autopoietischer Systeme. Dann befaßt er sich mit Luhmanns Interpretation ökonomischer Theorien und seinen Aussagen zur Theorie der Zahlung und der Theorie der Preise. Der Autor sieht seine Zweifel an den "erhöhten Ansprüchen an begriffliche Genauigkeit" bestätigt. Er kritisiert sowohl Luhmanns Auffassung von der Wirtschaft als "bloße black box" als auch dessen Ausblendung der Individuen als Handelnde und des individuellen Bewußtseins aus dem Wirtschaftsprozeß. (pag)
Im Feld der Theorien sozialen Wandels stellen Erklärungen, die die neodarwinistischen Mechanismen Variation und Selektion heranziehen, viel versprechende Ansätze dar. Um den Kern des neodarwinistischen Modells zu fassen und die Potentiale und Probleme einer gesellschaftstheoretischen Anwendung abzuschätzen, werden in diesem Buch die Ansätze von W.G. Runciman und von N. Luhmann herangezogen und in den Kontext der historischen Entwicklung einer evolutionären Perspektive im Forschungsprogramm des sozialen Wandels gestellt.
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Die bundesrepublikanische Gesellschaft ist durch eine zunehmende Differenzierung in Teilsysteme, wie z. B. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Familie u. a., mit jeweils spezifischen Funktionen und Vermittlungsmechanismen gekennzeichnet. Diese Situation wurde insbesondere durch Niklas Luhmann in den vergangenen Jahren analysiert. Auf der Grundlage dieser Analysen wird in der vorliegenden Arbeit die Frage untersucht, welche spezifische Funktion Religion in einer differenzierten Gesellschaft hat, welcher Vermittlungsmechanismen sie sich bedienen kann und welche Strukturen im Teilsystem Religion möglich sind. Die Thesen Luckmanns von der Säkularisierung und Privatisierung der Religion werden zurückgewiesen. Zahlreiche Einzelfragen, wie z. B. die Organisierbarkeit von Religion, die Problematik religiöser Rollen, Hindernisse für Strukturvariabilität von Kirchen u. v. a., erscheinen in diesem Zusammenhang unter Berücksichtigung organisationssoziologischer Forschungsergebnisse aus den USA und aus Deutschland in einem neuen Licht.
"'Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es Systeme gibt.' So beginnt Niklas Luhmann (1984: 30) das erste Kapitel seines Grundrisses einer allgemeinen Theorie. Doch ganz so einfach, wie es zunächst erscheint, hat Luhmann es sich (und seinen LeserInnen) nicht gemacht. Auch Systeme haben einen Anfang. Systeme müssen entstehen, bevor es sie gibt; oder anders: es gibt Systeme erst, wenn sie entstanden sind. Dies ist nicht unproblematisch, denn mit der Systemgenese muss ein Problem gelöst werden, dass seit Talcott Parsons 'doppelte Kontingenz' genannt wird. Parsons hatte anhand dieses Problems die Frage lösen wollen, wie denn soziale Ordnung überhaupt möglich sei. Das Problem und die Lösung 'doppelter Kontingenz' nimmt deswegen bei Parsons eine wichtige Stellung ein. Auch für Luhmann ist das Problem 'doppelter Kontingenz' zentral: 'Wir halten fest, dass das Problem der doppelten Kontingenz zu den Bedingungen der Möglichkeit von Handlungen gehört und das daher die Elemente von Handlungssystemen, nämlich Handlungen, nur in diesen Systemen und nur durch Lösung des Problems der doppelten Kontingnez konstituiert werden können.' (Luhmann 1984: 149). Nur wenn es eine Lösung des Problems 'doppelter Kontingenz' gibt, kommt es zur Systembildung. (Luhmann 1988: 237)" (Textauszug)
On the level of overall social theory thinking, there have been only very few thinkers in the past decades who have conceived a theory that contain detailed analysis in terms of several social spheres. The French Pierre Bourdieu and the German Niklas Luhmann are definitely two of the few, and their impact can be shown, albeit the approach applied is different in each scientists' community, all over the world in social science analyses. Having dug himself into the works of both sociologists, one will soon reveal that these two theories show similarities in several respects, and also find points of departure totally different from each other. This paper attempts to describe some of the differences and some of the similarities between the theories of Luhmann and Bourdieu.
Der Beitrag erörtert den Kulturbegriff in der Systemtheorie von Niklas Luhmann. Dabei orientieren sich die Ausführungen an den folgenden Fragen: Wie kann die Systemtheorie nach Luhmann mit dessen Erbe und seinem schwierigen Verhältnis zur Kultur umgehen? Wohin hat Luhmann die Kultur verjagt, bzw. ist ihm diese Austreibung überhaupt gelungen? In diesem Zusammenhang gilt es ferner zu klären, ob eine Theorie der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung ihrerseits auf einen Kulturbegriff verzichten kann. Denn trotz seiner offensichtlichen Ressentiments gegenüber der Kultur stellt Luhmann fest, dass 'Wissenssoziologen sich eigentlich fragen könnten, weshalb dieser Begriff als ein historischer Begriff in die Welt gesetzt worden ist und was damit erreicht werden sollte'. Die arbeitsleitende These lautet, dass auch Luhmann in seiner Beschreibung der Gesellschaft und ihrer Funktionssysteme von Wirtschaft, Politik, Religion, Kunst, Erziehung, Wissenschaft und Recht nicht um eine zumindest indirekte Berücksichtigung dessen, was auch mit 'Kultur' zu benennen ist, herumkommt. Es wird gezeigt, dass 'Kultur' als eine Art Sammelbegriff für jenes Phänomen gelten kann, für das Luhmann in seinem Theoriedesign mindestens die hier vorgestellten Begrifflichkeiten von 'Sinn', 'Semantik', 'Gedächtnis' und 'Selbstbeschreibung' benötigt, um ihm auch ohne explizite Namensnennung analytisch gerecht zu werden. Zur Herleitung und theoretischen Untermauerung dieser 'Substitutionsthese' bedarf es zuvor jedoch einer Darlegung der Luhmannschen Vorstellung von den verschiedenen möglichen Beobachtungsperspektiven. Statt einen weiteren Beschreibungsversuch dessen, was Kultur ist, anzubieten, konzentriert sich der Aufsatz deshalb auf die Beschreibung ihrer Funktion, also auf die Frage, wie Kultur funktioniert. Oder genauer: wie ihre Funktionsweise beobachtet werden kann und wie Luhmann sie beobachtet. (ICG2)